Eine der prägendsten Zeiten meines Geschichtsstudiums
Mein Aufenthalt an der Temple University in Philadelphia im Fall Term 2021 erfahre ich als eine der prägendsten Zeiten meines Geschichtsstudiums. Die Vorbereitungen und Vorfreude gingen ihm voraus und sein Einfluss wird voraussichtlich über die knapp fünf Monate anhaltende physische Anwesenheit in den USA hinausreichen.
Als ich mich im Dezember 2020 um den Austauschplatz bewarb, befand ich mich in den letzten Zügen eines zähen und langwierigen Prozesses, mein Bachelorstudium abzuschließen. Mein Masterstudium an der Universität Erfurt anzuschließen, war schon fest eingeplant. Nicht zuletzt das breite und interessante Angebot von internationalen Hochschulkooperationen in den Geschichtswissenschaften war ein Grund für diese Entscheidung. Der zweite lange Corona-Lockdown, der noch bis April 2021 anhalten sollte, vereinfachte die Schlussphase des Bachelors jedoch nicht gerade. In dieser herausfordernden Lage der Lockdown-Isolation war die Aussicht, dass ich im kommenden Jahr für fünf Monate in den USA studieren könnte, ein wahrer Lichtblick. Es war etwas, auf das ich mich freuen konnte – endlich wieder neue Erfahrungen zu sammeln und mein Studium aktiv zu bestimmen, anstatt in ständiger Corona-Ungewissheit passiv vor sich hin zu arbeiten.
Die Vorfreude begleitete mich durch die Vorbereitungen auf die Reise während des darauffolgenden Sommersemesters 2021, meinem ersten Mastersemester. Die glücklichen Fügungen, dass Joe Biden eine Ausnahme für internationale Studierende von dem Einreiseverbot einführte und dass ich mich im Mai 2021 impfen lassen konnte, ließen meine Zuversicht wachsen. Mein Reisepass war erneuert, ein bezahlbares Zimmer in Philadelphia bald über sublet.com gefunden, mein WG-Zimmer in Erfurt gekündigt und der Flug gebucht. Let’s go!
Nun ist es schon Oktober, Halbzeit, und die Anforderungen der drei Seminare, die ich hier besuche, nehmen stetig zu. Mindestens drei Buchvorbereitungen wöchentlich sowie regelmäßige schriftliche Abgaben und Recherchen gehören zu meiner Arbeitsroutine. Die Bibliothek ist oft voll, Seminarsitzungen werden auf Onlineplattformen verlegt und durch das Fenster meines Zimmers dringt das stetige Lärmen der North Broad Street – Philadelphias städtische Hauptverkehrsader. Selbst der Fairmount Park, der größte städtische Park der USA, bietet wenig Erholung, da die nächste vielbefahrene Straße nie weit ist. Wenn ich vor die Tür trete, passiere ich säckeweise ungetrennten Abfall und achtlos weggeworfenen Müll. Die ersten Studenten und Mitarbeiter der Temple University, die ich fragte, wie ihnen die Stadt gefiele, hatten nur Negatives zu berichten. Sie betonten die zunehmende Armut, die Segregation und warnten mich vor bestimmten Stadtteilen.
Trotz alledem empfinde ich es als Privileg als Geschichtsstudentin an der Temple University in Philadelphia ein Semester verbringen zu können. Die Seminare sind gleichzeitig Herausforderung und wertvolle Lernerfahrung, die mich als Studentin voranbringen. Hier wird von den Professor*innen großer Wert auf ergebnisorientierte, regelmäßige Schreibübungen gelegt und angestrebt einen soliden Überblick der Historiographie eines Forschungsfeldes zu erlangen. (Mehr dazu in einem weiteren Blogbeitrag.) Die Charles Library ist eine sehr moderne Bibliothek, die mit ihren Technologien sowie umfangreichen Buch- und historischen Quellensammlungen wertvolle Dienste bereitstellt. (Es ist zur Abwechslung sehr erleichternd sich keine Gedanken über nicht-vorhandene Journallizenzen oder Fernleihe machen zu müssen!) Darüber hinaus ist die Bibliothek aber auch einfach ein angenehmer Ort, um das tägliche Arbeitspensum zu schaffen. Sowohl entspanntere Sitzgelegenheiten zum Ausruhen und Essen (ja, essen!) als auch Stillarbeitsplätze für den intensiven Schreibendspurt sind verfügbar. Auch wenn der Campus mehrere Blocks umfasst, sind der nächste Kaffee am 7-Eleven oder Saxby’s sowie Lunchmöglichkeiten an den diversen Foodtrucks gerade mal um die Ecke. Grünflächen und verkehrsberuhigte Straßen machen den inneren Campus zu einem guten Ort, um die Sonne zu genießen oder neue Bekanntschaften auf einen Kaffee zu treffen.
Die Temple University bietet neben umfassenden Möglichkeiten zur akademischen Weiterbildung auch Freizeitaktivitäten. Unzählige Campus Clubs und Organisationen stellen sich zu Beginn des Semesters auf einem Event ähnlich Erfurts „Markt der Möglichkeiten“ vor und laden ein sich zu beteiligen. Der Barnes Club, der Club der History Graduate Studierenden, organisiert einmal im Monat eine Kaffeerunde und eine Happy Hour, zu denen die Erfurter Austauschstudierenden herzlich willkommen geheißen wurden. Diese Events waren eine wunderbare Möglichkeit die Kommilitonen auch privat kennenzulernen und neue Kontakte zu knüpfen. Auch die Angebote der sportlichen Betätigung in Temple sind ein weiteres Positivum. Es stehen mehrere Krafträume sowie Laufstrecken und ein Schwimmbad zur Verfügung aller Studierenden. Die Sportclubs bieten eine Varietät an Sportarten an: Ich habe hier nach Jahren wieder das Fechten für mich entdeckt. Die Ausrüstung konnte ich mir leihen und meine eingerosteten Fähigkeiten bei Training und Turnieren austesten. Nicht zuletzt der Kontakt zu Studierenden, die aus allen Bereichen der Universität kommen und mit denen man auch mal über andere Dinge als Uni spricht, ist es wert die Freizeitangebote Temples wahrzunehmen.
Die Freizeit kann selbstverständlich auch gut in Philadelphia verbracht werden. Die erste Person, die Gutes über das Leben in Philly zu berichten hatte, verglich die Stadt mit einem „low-key“ New York. Die ‚City of Neighborhoods‘ biete genauso reichhaltige kulturelle und kulinarische Angebote, die allerdings bezahlbarer seien. Wie sehr die Stadt mit New York zu vergleichen ist, kann ich nicht beurteilen. Aber das umfassende kulturelle Angebot der historischen Infrastruktur aus Museen und Geschichtsstätten sowie das kulinarische Angebot von Chinatown, Reading Terminal Market oder Steak-Diners bietet genug Auswahl für Ablenkung, wenn man dem Campus einmal überdrüssig wird. Der Charme der Stadt macht auch die Unterschiedlichkeit und Eigenheiten der Stadtviertel aus. Ob South Street, Fishtown oder Fairmount, auch auf mehreren Erkundungsgängen lassen immer neue kleine Läden oder schöne Cafés finden.
Besonders nach der Corona-Isolation in Deutschland sind sowohl die Eindrücke des Campuslebens als auch der belebten Stadt eine ungewohnte, manchmal überfordernde aber immer bereichernde Erfahrung. Diese Eindrücke, die gehaltvollen Begegnungen, das erworbene Wissen und die veränderte Perspektive werden mich voraussichtlich noch über meinen Aufenthalt hinaus prägen und mein weiteres Studium der Geschichtswissenschaften beeinflussen.
Eine der prägendsten Zeiten meines Geschichtsstudiums von Meike Katzek