In the Streets of Philadelphia – Verena Pichler (2021)

In the Streets of Philadelphia

Wie gefällt es dir in Philadelphia? – Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz nun seit meiner Ankunft Mitte August gehört habe, von Freunden und Familie zu Hause ebenso wie von meinen Kommiliton*innen hier. Wie gefällt es mir? Gut! Philadelphia ist eine faszinierende Stadt, mit einer spannenden Geschichte, aber in meinen Augen durchaus auch kontrovers. Hier gibt es nicht nur schöne und weniger schöne Ecken wie in jeder Stadt, sondern ein direktes Nebeneinander von extrem reich und extrem arm, von hoher Kriminalität und elaborierten Sicherheitsmaßnahmen und eine überdeutlich sichtbare Verteilung der Anwohner nach Herkunft und Hautfarbe in verschiedenen Vierteln der Stadt.

Als Austauschstudentin der Universität Erfurt studiere ich für den Fall Term 2021 an der Temple University hier in Philadelphia als graduate student am Department of History, und natürlich habe ich mir vorgenommen, möglichst viel von meiner Gastheimat zu erkunden. Da es aber empfehlenswert ist, das bei Tageslicht zu tun und meine Kurse meist bis 16.20 Uhr oder 17.00 Uhr gehen, habe ich bisher noch nicht halb so viel von der Stadt gesehen, wie ich das gerne hätte. Dennoch kann ich schon ein paar Eindrücke weitergeben. Grundsätzlich muss ich dazu sagen, dass ich aus einer sehr ländlichen Gegend in Deutschland komme, eine große Stadt ist für mich also immer ein kleiner Kulturschock. Dennoch ist Philadelphia deutlich größer als jede Stadt, in der ich bisher längere Zeit war, wenn auch nicht ganz so überwältigend groß wie z.B. New York City. Das Nahverkehrssystem ist – wie wohl in den meisten amerikanischen Städten – eine ziemliche Katastrophe, aber die Innenstadt und der Temple Hauptcampus sind immerhin noch in walking distance, bzw. gut verbunden durch eine der beiden einzigen existierenden U-Bahn-Linien.

Das erste Ziel nach der Ankunft in Philadelphia ist sicherlich „Center City“, das historische Zentrum der Stadt, in dem Gründer William Penn sein Schachbrettmuster aus Straßen begonnen hat, das das Stadtbild bis heute prägt. Westlich des glitzernden Delaware River und des Seaport reihen sich noch das ein oder andere historische Backsteingebäude links und rechts der Market Street im „Historical District“ auf, inklusive der Independence Hall, in der 1776 die Declaration of Independence auf den Weg gebracht wurde und die heute den Kern eines kleinen Museumsbezirks bildet. Geht man weiter nach Westen, trifft man schließlich an der Kreuzung mit der Broad Street, der Nord-Süd-Hauptachse der Stadt, auf das imposante Gebäude der City Hall, das heute umgeben ist von ikonischen Hochhäusern, die die Sykline von Philadelphia bilden. Diese Gegend ist höchst schick, um den benachbarten Rittenhouse Square reihen sich teure Geschäfte und Nobelhotels. Von hier aus nordwestlich beginnt der mit Flaggen gesäumte Benjamin Franklin Driveway, der schließlich im Kunstmuseum endet, dessen weitläufige Treppen allgemein nur als „Rocky Steps“ bekannt sind, seit Sylvester Stallone sie im Film Rocky Balboa hinaufgejoggt ist (man glaubt es nicht, wie viele Menschen heute noch diese Stufen hochlaufen und sich oben in Rocky-Siegerpose fotografieren). In diesem Teil der Stadt habe ich bei schönem Wetter schon einige Zeit mit Spaziergängen verbracht oder mich einfach mal mit einem meiner Bücher auf die Stufen gesetzt und die Sonne genossen.

Für die eingangs erwähnten sozialen Differenzen, die in der Stadt sichtbar werden, ist die Gegend rund um den Temple Campus allerdings ein sehr gutes Beispiel. Der Temple Campus ist wunderschön, ältere neogotische (viele aus den 1930er Jahren) und moderne Gebäude, wie z.B. die Charles Library (2019), wechseln sich ab in einem verkehrsberuhigten, grünen Campus mit rot gepflasterten Fußgängerwegen und zahllosen Sitzgelegenheiten. Überall sind cherry-rote Banner mit dem Temple-T. Ich denke, von allen Universitäten, die ich bisher gesehen habe, hat Temple den schönsten Campus – ich fühle mich hier super wohl. Und trotz der 40.000 Studierenden passiert es einem immer wieder, dass man auf den Campus-Wegen jemanden trifft, den man kennt, und an seinen Stammplätzen in der Bibliothek sowieso. Für Essen sorgen hauptsächlich die zahlreichen Foodtrucks entlang der Straßen, Kaffee gibt es an mehreren Ecken und Richie von Richies Burgers kennt quasi alle seine Kunden mit Namen. Auch die Leute im History Department, Dozenten wie Studierende, sind spitze. Die meisten Leute, die ich kenne, wohnen in direkter Umgebung des Campus, entweder in den On-Campus Dorms oder – so wie ich – den Off-Campus Wohnheimen, die ein paar Querstraßen weiter weg sind, dafür aber etwas billiger und meist mit Einzel- statt Mehrbettzimmern. Dementsprechend ist die ganze Gegend rund um den Campus vom Studentenleben geprägt.

Gleichzeitig ist das Viertel von North Philadelphia, in dem Temple liegt, eine der ärmsten Gegenden der Stadt überhaupt. Die Straßen und Gehwege sind in schlechtem Zustand, die Häuser meist alt, die Anwohner – so ist die traurige Wahrheit – gehören fast ausschließlich Phillys black population an (Randnotiz: Im englischen Dialog in den Seminaren sind diese Kategorisierungen so alltäglich, ebenso wie Diskussionen über institutionelle soziale Benachteiligung, dass sie kaum auffallen, aber auf Deutsch wird mir jetzt, da ich nach einer korrekten Formulierung suche, so richtig klar, wie seltsam diese Einteilung in „schwarz“ und „weiß“ als Begriffe eines amerikanischen Rassenkonzepts doch sind.) Nur im Speckgürtel rund um Temple werden nach und nach große neue Wohngebäude errichtet. Aber auch hier sind die strukturellen Probleme dieser Gegend noch sichtbar, die Müllentsorgung funktioniert überhaupt nicht, alles türmt sich auf der Straße (was, fairerweise, allerdings auch hauptsächlich die Schuld der Studenten selbst ist). Parallel zur hohen Armut ist leider auch eine hohe Kriminalitätsrate in North Philly, was wiederum zu einem weitläufigen Netz an Sicherheitsmaßnahmen rund um den Temple Campus führt. Temple hat eine eigene Campuspolizei, die das Unigelände und die umliegenden Studentenwohngebiete patrouilliert. Dieser Bereich wird zudem großflächig videoüberwacht und es gibt an allen Straßenecken beleuchtete Notfallsäulen, um im Falle eines Falles schnell den Notruf wählen zu können. Außerdem wird empfohlen, nachts nicht allein nach Hause zu gehen, stattdessen werden ein kostenloser Shuttlebus zu den Wohnungen und Walking Escorts in Form von Fahrrad-Polizist*innen zur Verfügung gestellt. Falls in der Nähe des Campus etwas passiert, wird man per SMS gewarnt, sich von den Orten fernzuhalten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich erschreckt habe, als gleich am ersten Abend nach meiner Ankunft in Philadelphia eine Nachricht ankam mit dem Text: „TUalert Shooting – reported at 1700 W. Oxford St. Use caution. Avoid the area. Police are responding.“ Das ist glücklicherweise nicht der Normalfall, und ich habe schnell herausgefunden, dass „shooting“ hier nicht so heftig verstanden wird, wie die Übersetzung ins Deutsche nahelegt, sondern oft einfach nur heißt, dass Anwohner Schüsse gehört haben. Wie immer, wenn man das Abenteuer Auslandssemester wagt, fühlt man sich manchmal eben wie in einer anderen Welt, egal wie ähnlich sich die Kulturen oberflächlich auch sein mögen. Obwohl eine angemessene Vorsicht in Philadelphia also durchaus sinnvoll ist, kann ich jedoch nicht sagen, dass ich mich jemals unwohl oder völlig unsicher gefühlt hätte. Wer durch die Straßen Philadelphias wandert, kann auf jeden Fall eine Menge lernen, über die Möglichkeiten, Probleme oder Herausforderungen der Stadt und die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten ebenso wie über die eigenen Annahmen – Annahmen, die man aus seiner Heimat mitbringt und die einem in der fremden Stadt vor Augen geführt werden, wenn man Gemeinsamkeiten und Unterschiede sieht.


In the Streets of Philadelphia von Verena Pichler