Von Prof. Dr. Ruth Menzel
Wer den Spuren früher Erfurter Kinogeschichte folgt, wird sie wohl kaum in Wohn- und Geschäftshäusern suchen. Aber schriftliche Nachweise bestätigen mehrere dieser eigentümlichen privaten Standorte. Wie einige andere Gebäude beherbergte auch das am Fischmarkt Nr. 11 eins der so genannten Ladenkinos, die bald nach der Jahrhundertwende zu außergewöhnlichen Schauspektakeln einluden. Im Herbst 1904 hatte der Kaufmann Emil Tscharnke das Anwesen Marktstraße 57 niederreißen und durch einen Neubau ersetzen lassen sowie mit seinem benachbarten Eigentum Fischmarkt Nr. 11 vereinigt. Carl Haddenbrock entwarf die Baupläne und sorgte für deren Umsetzung.
In Theodor Scherff Senior fand Tscharnke einen nicht nur wirtschaftlich tüchtigen, sondern auch pfiffigen, für neuartige Amüsements aufgeschlossenen Pächter. Wie Georg Hummer 1959 schilderte, inszenierte der aus Leipzig stammende Scherff 1906 im “Kaisersaal” seine mit großem Wortschwall angepriesene “Phonokinematographischen Prachtvorstellungen”. Der Historiker Bodo Fischer bestätigte 1980, das Bioskop-Institut Scherff hätte im “Reichshallen-Theater”, in der Gaststätte “Rheinischer Hof” und im “Kaisersaal” Filme abrollen lassen. Wolfgang Edler erwähnte 1982, ein verbessertes Filmvorführgerät soll 1896 ermöglicht haben, Filmgesellschaften zu bilden, beispielsweise “Scherffs Bioskopisches Institut”, das “Phonoelektrische Institut” und das “Wissenschaftliche Theater Cosmograhia”. Ihre Auftritte erfolgten in Erfurter Varietés und Tanzsälen von Gaststätten.
Gründung des Kinos im Jahr 1907 in Erfurt
Im Sommer 1907 beantragte Scherff, zwei Elektromotoren für “die Vorführung lebender Photographien” in seinem geplanten Bioskop-Theater aufstellen zu dürfen. Nach erteilter Genehmigung durch den Königlichen Gewerbe-Inspektor Niemeyer konnten unverzüglich ein 3,93 Meter hoher Zuschauerraum und ein Projektionsverschlag von 3,62 Meter Höhe im linken Hausteil errichtet werden. Den gesetzlichen Anforderungen entsprechend hatten beide Gelasse reichliche Belüftung und Beleuchtung, der Vorführapparat einen Ventilationsfächer und der Zuschauerraum ein elektrisches Klavier. Richard Hegelmann lieferte und projektierte hier alle Geräte. Im November 1907 ließ Scherff noch zwei Gasöfen installieren, um seine Kunden über den Winter angenehm temperierte Aufenthalte und für sich weitere Einkünfte zu sichern. Offenbar klingelten die Kassen, denn bereits im September 1908 beantragte der Eigner beim Bauamt, sein Theater auf die rechte Hausseite verlegen und vor allem vergrößern zu dürfen. Entwürfe für einen Zuschauerraum mit 27 Sitzreihen und 240 Plätzen entwickelte der Erfurter Architekt und Bauingenieur Hermann Peter, ein solide ausgebildeter, damals 41-jähriger Fachmann im Villenbau und in technischen Bereichen. Am 31. August 1908 fand die Schlussabnahme des verlegten Kintopps statt. Sein straßenseitiger Zugang führte an einer Kasse vorbei in den Empfangs- und Warteraum, von da entlang einer beweglichen Wand mit Eisenrahmen und Stoffbespannung in den Vorführraum mit Sitzen auf ansteigendem Holzpodium von drei Ebenen. Zwei Notausgänge boten Fluchtwege nach der Tordurchfahrt. Alle Saalfenster erhielten licht- und schalldichte Korkplatten.
Zweifellos bot die Lage am Fischmarkt den Besuchern Vor- und Nachteile, einerseits reichliche Chancen, vor und nach dem Kintoppgenuss durch die angrenzenden Geschäftsstraßen zu schlendern und in geselliger Kneipenrunde zu verweilen. Andererseits verlangte der zentrale Platz beim Rathaus und Kreisgericht ein besonders gebührliches Verhalten ohne lärmende Unterhaltung, grölenden Gesang und lautes Gedröhn elektrischer Kinoklaviere. Als Geschäftsführer Josef Lentsky 1911 beantragte, zwei Reklameschilder im Schaufenster Fischmarkt 11 anbringen zu dürfen, reagierte das 1. Polizeirevier prompt mit dem Bescheid: “Die bunten, häufig recht unangenehm auffallenden Reklameplakate der Kinematographentheater beeinträchtigen das Aussehen des Straßenbildes wesentlich. Da der Fischmarkt gegen solche Veranstaltungen in dem § 186 des Ortstatuts gegen die Verunstaltung besonders geschützt ist, so kann die Anbringung nicht geduldet werden.” 1912 brachte der neue Kinobetreiber Kaufmann Carl Sterzing aus Farnroda ohne polizeiliche Genehmigung ein 4,00 Meter langes und 1,00 Meter hohes Reklameschild über den Schaufenstern an, was umgehende Verbote provozierte.
Vom internationalen Film zum “hochpatriotischen Unterhaltungsprogramm”
Im “Bioskop”, das auch “Volkstheater” genannt wurde, fanden wie im “Maxim” historische Stoffe bevorzugte Verwendung. Auch die Weltoffenheit beider bestätigte sich. So kamen Produktionen “erster Kräfte der Königlichen Hofbühne” Kopenhagen im April 1911 mit “Versuchungen der Großstadt” und im Juni 1911 mit “Die weiße Sklavin” zur Aufführung. Gleichzeitig folgte auch das Bild “Nachtfalter”, das große Pariser Boulevard-Drama in zwei Akten über eine Stunde Dauer (800 Meter Filmlänge) ein Weltschlager mit der Dänin Asta Nielsen in der Hauptrolle. Geschichtsträchtige Produktionen zeigte man zu folgenden Terminen: Dezember 1910: “Semiramis. Die siegreiche Königin Babylons”. Februar 1911: “Napoleon I auf St. Helena. Die Schicksale des großen Kaisers in der Gefangenschaft”, ebenfalls: “Agrippina”. Historische Dramen aus der Zeit Neros. März 1911: “Hamlet, Prinz von Dänemark”, Drama nach Shakespeare. April 1911: “Die Räuber”, Drama von Friedrich Schiller. Mai 1911: “Die Maccabäer”, aus dem Befreiungskampf der Juden gegen den syrischen König Antiochus IV. April 1911: “Das goldene Mahl”, Drama nach Boccacio aus klassischer Zeit, ebenfalls “Trojas Fall”, koloriert. Juni 1911: “Das befreite Jerusalem”, nach dem Heldengedicht von Torquato Tasso aus der Zeit der Kreuzzüge. Neben diesen Stummfilmen geschichtlicher Belehrung fanden freilich auch Natursituationen wie “Die Besteigung des Himalaja”, spannende Detektiv-Dramen mit Sherlock Holmes wie “Arséne Lupins Ende”, Humoresken und Wochenschauen aktueller Tagesereignisse aus aller Welt ihren Platz.
Im September 1911 wechselte der Kinobesitz von Scherff zu Carl Sterzing, dem auch seitdem das “Volkskino” in der Johannesstraße gehörte. Die Tagespresse ließ sogleich wissen, dass beide Lokale gleiche Programme absolvieren. Sterzing fühlte sich aber auch zu grundsätzlichen Änderungen bemüßigt: “Was bisher von mir ohne jede marktschreierische Konkurrenz-Reklame geboten wurde, wird auch fernerhin dargebracht. In meinen Theatern wird alles nach echt einheimischer Art betrieben, da gibt es zwar keine echte französische Salonmusik aus Erfurt und keine hervorragenden Pariser Künstler, auch sitzt kein Virtuose am Flügel und dergl. Renommiersachen mehr sind zu sehen und zu hören, sondern im Bioskop und Volkskinotheater ist alles echt und unverfälscht, natürlich und gemütlich.” Sterzings Programmangebote dominierten soziale Problemzonen, darunter im September 1911 das Sittendrama “Die Jugendsünde”, im Oktober “Verirrte Seelen” und im November 1911 “Brennende Triebe” mit Asta Nielsen, der “Muse der Kinokunst”, die schon in “Heißes Blut”, “Abgründe” und “Der schwarze Traum” große Erfolge feierte, aber nun beispiellose jubelnde Triumphe erlebte. Anstelle französischer Salonmusik bot Sterzing nun musikalische Begleitung des Berliner Konzertmeisters Erwled Astor.
Während des Ersten Weltkriegs warben die Bioskop- und Volks-Theater sowie die Kammer-Lichtspiele gemeinsam für den Kinobesuch. Hier, aber auch in allen anderen Erfurter Kinos dominierten mehr oder weniger auffällig die Kriegsfilme, Offiziers- und Soldatendramen und -komödien und Spionagekrimis. In den Pausen waren Porträts berühmter deutscher Männer wie “Kaiser Wilhelm II.” und Kriegsbilder von 1870/71 zu sehen. In der “Thüringer Allgemeinen Zeitung” hieß es im Oktober 1916: “Der ernsten Zeit Rechnung tragend, bringen wir wieder ein außergewöhnlich großzügig angelegtes, hochpatriotisches Unterhaltungsprogramm: Dokumente zum Weltkrieg. Naturgetreue Wochenschau vom Schlachtfelde. ‘Lieb Vaterland magst ruhig sein’, das prachtvoll-schönste Kriegsdrama der Gegenwart, ‘Dynamit als modernes Sprengmittel’, populärwissenschaftliche Abhandlung und ‘Kriegsgetraut’, lebenswahres Drama mit urdeutscher Handlung. Mehrere Programmhinweise enthielten den Zusatz verwundete Soldaten haben außer an Sonnabenden und Sonntagen vollständig freien Zutritt. Garantiert wurden volkstümliche Eintrittspreise während der Kriegszeit.”
Bis in die frühen 1920er-Jahre konnte sich das Bioskop noch unter der Leitung von Kinounternehmer Buchmann behaupten. Offenbar trug die Konkurrenz des nahen Roland-Theaters zur baldigen Schließung bei.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich unter dem Titel “Das Central-Theater am Friedrich-Wilhelms-Platz Nr. 6-9 und das Bioskop-Theater am Fischmarkt 11. Zeugen früher Erfurter Kinogeschichte II” in “Stadt und Geschichte: Zeitschrift für Erfurt”, Heft 3/2013, Nr. 55. Er wurde uns freundlicherweise von der Herausgeberin und Autorin der Zeitschrift, Frau Prof. Dr. Ruth Menzel, für die Veröffentlichung auf diesem Blog zur Verfügung gestellt. Der Artikel wurde aus redaktionellen Gründen um Zwischenüberschriften ergänzt.
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