Von Eberhard Menzel
Am 2. März 1910 stellte der Erfurter Glasobermeister und Stadtverordnete Hermann Weißleder bei der Baupolizei den Antrag, auf seinem Grundstück Johannesstraße 91/92 anstelle des alten bescheidenen Anwesens in der Art seiner beiden noch heute existierenden Nachbarn ein stattliches viergeschossiges Wohn- und Geschäftshaus errichten zu dürfen. Er gewann den Erfurter Architekten und Bauingenieur Hermann Peter, Entwürfe zu entwickeln und die Firma Maurermeister Rudolf Walther sie auszuführen. Den Plänen wurde stattgegeben.
Schon am 14. Januar 1911 beantragte der Unternehmer Carl Sterzing, ihm an diesem geschäftlich günstigen Platz den Einbau eines Lichtspiel-Theaters zu genehmigen. Dabei wies er sich aus als Vertreter leistungsfähigster Filmlieferanten, auch als sachgemäßer und billiger Einrichter kompletter Kinematographen-Theater und Zulieferer sämtlicher Kinobedarfsartikel. Derzeit verwaltete er als Pächter bereits das Bioskop-Theater am Fischmarkt und das Kolosseum in der Krämpferstraße sowie Filialen in Gotha und Mühlhausen. Sterzing hatte schon 1908 an der Ecke Johannesstraße 85/87 das derzeit größte Erfurter Kinematographentheater mit 300 Plätzen eingerichtet, am 19. November 1908 als Volkskino-Theater eröffnet, aber aus unbekannten Gründen 1911 wieder aufgegeben, um schräg gegenüber in der Johannesstraße 91/92 einen neuen Start zu versuchen. In der Thüringer Allgemeinen Zeitung hatte er noch prophezeit: “Speziell dem Bedürfnis der Johannes- und Andreasvorstadt, sowie llversgehofen Rechnung tragend, haben wir die Eintrittspreise so niedrig gestellt, daß es auch den Minderbemittelten für ein Weniges möglich ist, sich den Genuß auf Stunden gestatten zu können.”
Eröffnung des Volkskino-Theaters am 22. Januar 1911: Ein vielgelobter Start
Polizeioberbauinspektor Ludwig Boegl verband seine Baugenehmigung für Weißleder mit einigen Auflagen, beispielsweise die höchst zulässige Besucherzahl von 242 Personen zu berücksichtigen, zwischen der ersten Sitzreihe und der Projektionswand einen Abstand von mindestens 3,00 m einzuhalten, die Sitzplätze aus Sicherheitsgründen für den Fall eines Feueralarms unverrückbar zu befestigen, den Hofdurchgang im Vordergebäude während der Filmvorführungen als Notausgang freizuhalten und alle Räume mit Ventilatoren zu bestücken. Nach Erledigung aller Mängel vollzog Polizei-Baumeister Duewel am 21. Januar 1911 die Abnahme ohne weitere Beanstandungen. Und tags darauf konnte Sterzing sein Etablissement eröffnen. Die Thüringer Allgemeine Zeitung lobte den Neuzugang der Kulturstätte mit den Worten “größtes, elegantestes und leistungsfähigstes Kinematographentheater am Platze gegenüber dem alten Theater.” Hervorgehoben wurden die Zentralheizung und vorzüglichen Ventilatoren, aber auch die angekündigten hochdezenten Familienprogramme.
Das eingeschossige Kino nahm fast den gesamten rechten Teil des Anwesens bis zum Kochlöffel in Anspruch. Vom Eingang Johannesstraße gelangte der Kinobesucher über den Vorraum mit Kasse in den von einer Drahtglasdecke überdachten Zuschauerraum mit einer 2,30 m hohen Projektionswand. Dahinter lagen parallel zum Hofraum separate Räume für die Vorführung und Abspulung der Filme, beide brandsicher mit einer Stahlbetondecke abgeschlossen. Zur Ausrüstung des Kinematographen gehörten ein elektrischer Transformator von 2 ½ PS und ein Lichtbildapparat. Drei Bogenlampen und ein Schriftzug “Kino-Theater”, 4,50 m über dem Bürgersteig angebracht, sollten die Fassade schmücken. Und 1913 gesellte sich auch noch ein Photographen-Schaukasten hinzu. Einer Aktennotiz zufolge existierte das Kino noch bis 1919. Erst im Mai 1930 erinnerte die nächste und letzte Nachricht der Bauakte, dass das ehemalige Lichtspieltheater zu einem Massageraum mit 8 Wannenbadstellen umgebaut worden sei. Hausbesitzerin war damals Witwe Auguste Weißleder. Im Adressbuch von 1948 ist zu erfahren, dass die Geschwister Weißleder nun als Hauseigentümer galten und ein A. Völker als Inhaber eines Licht- und Heilbades mit dem Namen “Johannesbad”.
Im Überblick aller in den Tageszeitungen aufgefundener Filmprogramme des Volkstheaters ist unschwer festzustellen, dass sämtliche Charakteristika anderer Erfurter Kinos jener Zeit auch auf dieses zutrafen. So wurden beispielsweise den angekündigten Lichtspielproduktionen regelmäßig Kurzkommentare beigefügt. In zunehmendem Maße erschienen Namen beteiligter Regisseure und Schauspieler. Im Oktober 1916 würdigte man mit dem Drama “Das Geschick der Julia Tobaldi” nach einem Hebbelschen Motiv die vielgefeierte Kinokönigin Erna Morena in der Hauptrolle. Und der Schauspieler Waldemar Psilander erhielt 1916 im Lustspiel “Prinz im Exil” sowie 1917 im Kriminaldrama “Schicksalspfeil” und “Die Ehe im Schatten” eine verehrende Erwähnung. Für Harry Liedtke, der im Sensationsdrama “Der Verschollene” brillierte (Januar 1917), fanden sich begeisterte Lobesworte. Dieser Künstler (Lebensdaten 1888 bis 1945) hatte wie viele andere seiner Berufsgruppe viele Auftritte an Theaterbühnen verschiedener Orte absolviert, ehe ihn Oskar Meßter für den Stummfilm entdeckte. Er gehörte bald, nicht zuletzt wegen seiner vielen Gute-Laune-Rollen zu den Publikumslieblingen. Erwähnt wurden auch Asta Nielsen und Max Landau im Streifen “Aschenbrödel” (März 1917) und Harry Piel im Detektivdrama “Der Bär von Baskerville” (Januar 1917).
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs: Das Filmprogramm des Volkstheaters änderte sich rasch
In den ersten Jahren des Bestehens zeigte die Filmauswahl des Volkstheaters eine erstaunliche Weltoffenheit. Ausländische Produzenten sowie Stoffe waren oft beteiligt und förderten eine vielfältige Rundumschau. So boten erste Künstler dänischer Theater mit der Kriminalstudie “Die Bauernfänger” im März 1911 Raffinements weiterfahrener Hochstapler und Einblicke in tief verborgene Abgründe. Kopenhagener Künstler begeisterten das Publikum im November 1911 mit dem Liebesdrama “Enterbte des Glücks” und “Der Rächer seiner Ehre”. Eskimos verkörperten mit dem Streifen “Jro Peka, das Eskimomädchen” (November 1911) in den Eisfeldern Labradors landesspezifische Sitten und Gebräuche. Im Dezember 1911 erschütterte ein amerikanisches Seedrama “Schiffbruch mit dem Untergang eines Ozeandampfers”. “Mein erstes Goldkorn”, ein Drama aus den Goldminen Amerikas (April 1914) und “Die Wölfin”, ein Indianer-Schicksal (Juli 1914) entführten in unbekannte fremde Erdteile.
Während des Ersten Weltkrieges beschränkte sich die Filmauswahl jedoch rasch und weitgehend auf nationale Grenzen. Zu den Ausnahmen gehörte der dänische Kunstfilm “Wildfeuer” aus dem Zigeunerleben (Mai 1915). Ansonsten dominierten vor allem in den Jahren 1914/1915 Kriegsfilme verschiedensten Zuschnitts. So vermittelte “Gehetztes Wild” angeblich Charakterbilder aus dem dunkelsten Rußland und dem Leben der Verbannten in Sibirien (Februar 1915).
Im Januar 1916 brachten Volkstheater, Apollo und Bioskop als Erstaufführung für Erfurt “Der Katzensteg”, ein kolossales, machtvoll packendes Kriegs- und Sensationsdrama nach dem weltberühmten Roman von Hermann Sudermann. Regie führte Max Mack. Offenbar überragte dieser Film alle übrigen derzeitigen Angebote. Die Handlung spielte in den Jahren 1806 bis zur Zeit der Befreiungskriege. In bunter Mischung lösten sich historische und aktuelle, erschütternde und unterhaltsame Streifen ab, ulkigste Lustspiele wie “Mädels, ran an die Front” (Mai 1915) und Stoffe aus dem Altertum wie “Die Zerstörung Karthagos” (September 1916). Neben diesen kriegerischen Produktionen fanden Sittenromane aus dem modernen Großstadt und Artistenleben wie “Die Asphaltpflanze” (Dezember 1911) ihren gewohnten Anteil. Verfilmungen von bedeutenden Romanen, Darstellungen von Kunstschätzen und markanter Architektur aus aller Welt, wie sie am Anfang im Bioskop und CentralTheater gepflegt worden waren, gehörten nun zur Minderheit. Anstatt zu bilden und kulturell zu erziehen, galt es nun, mit Kassenschlagern zu unterhalten und vom Elend und der Not des Tages abzulenken.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich unter dem Titel “Das Volkskino-Theater im Haus Zum Schlehendorn in der Johannesstraße 91/92, das Union-Theater Michaelisstraße 30 und das Lichtspieltheater Karthause Kartäuserstraße 13/17. Erfurter Kinogeschichte IV” in “Stadt und Geschichte: Zeitschrift für Erfurt”, Heft 2/2014, Nr. 57. Er wurde uns freundlicherweise von dem Herausgeber und Autor der Zeitschrift, Eberhard Menzel, für die Veröffentlichung auf diesem Blog zur Verfügung gestellt. Der Artikel wurde aus redaktionellen Gründen um Zwischenüberschriften ergänzt.
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