Das bürgerwissenschaftliche Forschungsprojekt “Kino in der DDR” ist auf die Unterstützung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen angewiesen, die uns an ihren Erlebnissen rund um das Kino und den Film in der DDR teilhaben lassen. Zahlreiche Zuschriften sind bei uns hierzu bereits eingegangen. Eine davon ist von Margot Sander, die ausführlich von ihren Erinnerungen an die kleineren und größeren Lichtspielhäuser Leipzigs berichtet.

Von Margot Sander

Foto mit Blick auf die Fortunabadstraße 20 in Leipzig. Der Flachbau zeigt das ehemalige Kino “Ratskeller-Lichtspiele”. Quelle: privat, 1997.

In der Zeit meiner Kindheit, ich bin 1952 geboren, gab es in Leipzig viele Kinos. Jeder Stadtbezirk hatte wenigstens eines. Im Stadtzentrum befanden sich sogar mehrere. Berichten möchte ich über ein im Südwesten Leipzigs gelegenen Kino namens “Ratskeller-Lichtspiele”. Es befand sich in der Fortunabadstraße 20 (heute 20a). In einer 1927 erbauten Turnhalle wurde es laut der Wissensdatenbank “Kinowiki” 1937 eröffnet und hatte 270 Sitzplätze. Das Gebäude grenzte an ein Wohnhaus, dessen Erdgeschoss die Gaststätte “Zum Ratskeller” einnahm. Nach der Filmvorstellung war es möglich, durch den Hinterausgang des Kinos auf kurzem Weg in die Gaststätte hineinzugelangen. Eine Schulfreundin erinnerte sich, dass sie dort als Jungverliebte mit ihrem damaligen Freund meist noch ein Süppchen nach der Kinovorstellung aß. Das war ca. 1969.

Der Kinogang als Ritual für die ganze Familie

Doch zurück zum Kino. Nach Erzählungen meiner Mutter ist sie mit mir bereits im Vorschulalter in die Kindervorstellung gegangen. Diese war sonnabends um 15.00 Uhr. Gezeigt wurden, je nach Dauer, meist zwei bis drei kleine Puppentrick- und Zeichentrickfilme. Wir sahen den tschechischen Film “Wie der Maulwurf zu seinem Höschen kam” und andere aus dieser Reihe. Im Grundschulalter folgten die DEFA-Filme “Das singende, klingende Bäumchen” mit Christel Bodenstein, “Das Feuerzeug” mit Rolf Ludwig, “Der kleine Muck” und “Die Reise nach Bamsdorf”. Von dem im letztgenannten Film enthaltenen Lied “Es wollen zwei auf Reisen gehn” waren auch noch unsere beiden Söhne begeistert. An die sowjetischen Filme “Die zwölf Monate” und “Die Abenteuer des Burattino” kann ich mich auch erinnern. Burattinos Erlebnisse erschreckten mich; insbesondere als seine Nase immer länger wurde.

Dreimal sah ich den tschechischen Film “Die Prinzessin mit dem goldenen Stern”. Als ich ihn 2020 im Weihnachtsprogramm des Fernsehfunks entdeckte, musste ich ihn mir einfach erneut ansehen, um noch einmal in die Zeit meiner Kindheit zurückzukehren.

Meine Eltern waren eifrige Kinogänger. Sie gingen oft in die Samstagabendvorstellung. Am Sonntagmorgen durfte ich mit in die elterliche Schlafstelle kommen. Dann unterhielten sich meine Eltern über den Film vom Vorabend. Genauer gesagt: Meine Mutter erklärte meinem Vater, warum wer mit wem was angestellt oder unternommen hatte. Ich erinnere mich an Namen damaliger Filmstars wie Hans Albers, Lieselotte Pulver, Heinz Rühmann, Marika Röck oder Günter Simon.

Kino als Treffpunkt für Freunde und Gleichgesinnte

Infolge eines 1965 gekauften Fernsehapparates wurden die Filmbesuche meiner Eltern seltener. Ich ließ mich von dieser Anschaffung nicht beeinflussen. Dem Erlebnis eines Kinobesuches liegt eine ganz eigene Atmosphäre zugrunde, die nicht durch einen noch so großen Bildschirm oder ein bequemes Sofa zu Hause ersetzt werden kann. Schon auf dem Weg zum Kino fühlte ich mich in eine andere Welt versetzt. Die Spannung wuchs, wenn ich die wenigen Stufen zur Eingangstür emporstieg, die im Sommer offenstand.

Eine Eintrittskarte des Kinos “Filmtheater der Freundschaft” in Leipzig aus DDR-Zeiten. Foto: privat.

Vor dem Kino und in der kleinen Eingangshalle mit dem Kassenraum tummelte sich meist schon eine Anzahl Erwartungsfreudiger und nach dem Lösen der Eintrittskarte fand immer eine lautstarke Begrüßung statt. So lernte man weitere Gleichaltrige und auch deren Geschwister kennen. Frau Seidel, die Mutter eines Klassenkameraden, entwertete dann die Eintrittskarten, wurde energisch, wenn wir drängelten, und ließ uns in den Saal hinein. Als endlich der Moment kam und ein sanfter, nachhallender Ton erklang, das Licht allmählich erlosch, wurden augenblicklich alle Gespräche eingestellt und das leise Surren des Vorhanges war zu hören. Dann ließ man sich in die Ereignisse auf der Leinwand mitnehmen. Frau Weber, die Theaterleiterin, blieb bis zum Vorstellungsende im Kassenraum, während Frau Seidel die Aufführung im Saal mitverfolgte. War das Kino voll und es kam jemand zu spät, fungierte sie als Platzanweiserin. Im Licht einer kleinen Taschenlampe ging sie zur eingetretenen Person und führte diese zu einem freien Platz.

Frau Seidel war damals eine Institution. Schlechtes Benehmen duldete sie nicht und wir hatten vor ihr Respekt. Hatten Filme Szenen, die unsere Aufmerksamkeit unterforderten, wurde gern mit den Nachbarn geschwatzt. Konnte sich die Rasselbande nicht wieder beruhigen, schaltete Frau Seidel den Ton ab, machte das Licht an und erhob sich von ihrem Sitz. Dann schallte es durch den Saal: “Wenn ihr nicht gleich wieder ruhig seid, seht ihr euch einen Stummfilm an”. Das zeigte augenblicklich Wirkung und die Vorführung konnte weitergehen.

Schuften für den Kinobesuch

Als ich etwa zehn Jahre alt war, durfte ich auch sonntags 15.00 Uhr die Familienvorstellung besuchen. Vor diesem Vergnügen stand aber noch die Erfüllung einer häuslichen Aufgabe: Das Blankputzen des Messingwasserhahnes in der Küche mit einer Paste namens Sidol. Im Sommer kam der Wasserhahn im Hof mit dazu. Da meine Eltern ein paar Hühner hielten, bekam ich auch oft den Auftrag, die von den Mahlzeiten übrig gebliebenen Knochen für deren Futter in der Knochenmühle — einer Art Fleischwolf — zu zermahlen. Mit den Schweineknochen ging das recht gut, aber bei den harten Rindsknochen war das ein echter Knochenjob! Aber danach bekam ich das Eintrittsgeld, passend, denn ich sollte von Anfang an gewissenhaft darauf achten. Hätte ich Geld verloren, wäre aus dem Vergnügen nichts geworden.

Mein Fußweg zwischen Elternhaus und Kino betrug ca. 20 Minuten. Ich verlor natürlich kein einziges Mal eine Münze. Außerdem bekam ich noch ein Tütchen mit ein paar Bonbons mit. Meist waren es Kräuter- oder Anisbonbons. Sie waren in eine kleine Vanillezucker- oder Backpulvertüte eingepackt, die meine Mutter vom Wochenendkuchenbacken extra aufhob. Auf die Geschäftsidee, mit Popcorngeraschel seinen Platznachbarn den Filmgenuss zu vermiesen, kam man erst in späteren Zeiten. Meinen Freundinnen und mir reichte es, wenn wir uns vor Filmbeginn schnell noch einen Bonbon aus diesem kleinen Tütchen angelten.

Degengeklapper und Sophia Loren im Unterrock

Ein Film, der Margot Sander in Erinnerung blieb: “Der Kahn der fröhlichen Leute”. Filmplakat aus dem Jahr 1950, Quelle: © DEFA-Stiftung.

In dieser Zeit sah ich z. B.: “Der Kahn der fröhlichen Leute”, “Carola Lamberti”, “Kleider machen Leute”, “Der weiße Pudel”, “Der falsche Prinz”, “Zirkus Renz”, “König der Manege”. Auch UFA-Filme waren dabei. Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mich meine Mutter das erste Mal in eine Vorstellung um 17.15 Uhr mit. Wir sahen “Der Gejagte” mit Jean Marais. Der Film war zwar erst ab 14 Jahren zugelassen, aber da meine Mutter mit mir kam, ließ uns Frau Seidel hinein. Der Film spielte in Frankreich zur Zeit von Ludwig XIV. und meine Begeisterung kannte keine Grenzen. Fortan hatten es mir besonders die Mantel-und-Degen-Filme angetan. Eine ganze Anzahl davon kam in den kommenden Jahren in unser Kino. Meist waren es französisch-italienische Coproduktionen: “Der Graf von Monte Christo” und “Le Capitan” mit Jean Marais, “Tiger der sieben Meere”, “Die drei Musketiere” und “Der Ritter von Pardaillan” mit Gerard Barray, “Fanfan der Husar” mit Gerard Philipe und “Mandrin, der tolle Musketier”. In diese Filme kam meine Mutter nicht mit. Das ständige Degengeklapper war ihrer Meinung nach mehr was für Jugendliche. Einmal wollte sie mit mir in einen Film mit Sophia Loren gehen. Ich war etwa 16 Jahre alt, der Film aber erst ab 18 zugelassen. Leider weiß ich den Titel nicht mehr. Beim Erwerb der Eintrittskarte fragte meine Mutter, ob ich den Film auch ansehen könne. Da kam Frau Seidel extra aus ihrem Kassenraum heraus, nahm meine Mutter etwas beiseite und sagte mit ernster Miene: “Um Gottes Willen, jeden anderen Film, aber nicht diesen. Das ist noch nichts für ihre Tochter. Da sieht man doch so viel Nacktes!”

Bevor wir wieder nach Hause gingen, sahen wir uns nochmals die Fotos im Schaukasten an. Mit dem “Nackten” konnte nur gemeint sein, dass Sophia Loren oft im Unterrock zu sehen war. Den DEFA-Film “Mir nach, Canaillen” mit Manfred Krug, wollte ich mir im “Filmtheater der Freundschaft” ansehen (heute “Passage Kinos” in der Hainstraße). Prompt fragte mich die Einlasserin nach meinem Personalausweis. Ich war ein großgewachsenes Mädchen, hatte aber mit zwölf Jahren noch keinen. Ich war so erschrocken, dass ich nur flüsterte, ich hätte ihn zu Hause vergessen. Mein Gesichtsausdruck muss glaubhaft gewesen sein, denn sie belehrte mich mit ernster Miene: “Also Kinder, wozu habt ihr einen Ausweis, wenn ihr ihn zu Hause lasst. Heute drücke ich mal ein Auge zu, aber das nächste Mal nicht wieder.” Denke ich heute an diese Erlebnisse, muss ich schon sehr schmunzeln.

Den zweite Teil des Erlebnisberichts von Margot Sander finden Sie hier auf unserem Blog. Darin berichtet die Zeitzeugin über die großen Filmpaläste Leipzigs zu Zeiten der DDR, die Kunst des Filmvorführens sowie das große Sterben der Lichtspielhäuser nach der Wende.

Welche Filme haben Sie im DDR-Kino gesehen und wie erinnern Sie sich an diese Zeit zurück? Schreiben Sie uns Ihre Geschichte an kino-ddr@uni-erfurt.de oder teilen Sie Ihre Erinnerungen und Erlebnisse auf unserer virtuellen Forschungsplattform und helfen Sie uns, diese einmalige Kinokultur vor dem Vergessen zu bewahren: https://projekte.uni-erfurt.de/kinoinderddr/.