Im ersten Teil ihres Zeitzeugenberichts hat Margot Sander ihre persönlichen Erinnerungen an die kleineren und größeren Lichtspielhäuser Leipzigs zu Zeiten der DDR mit uns geteilt. Der zweite Teil ihrer Erzählung widmet sich der Kunst des Filmvorführens, den Kosten für einen damaligen Kinobesuch und dem großen Kinosterben in Leipzig in den 70ern und der Nachwendezeit.
Von Margot Sander
Etwa ab 1964 wurden Filme im 70mm-Format gezeigt. Leipziger Kinos, die räumlich die entsprechende Größe für die dazu benötigte Leinwand hatten, wie die Filmbühne “Capitol” (Petersstraße 20, Schließung 2003) und die “Schauburg” (Antonienstraße 21), wurden umgebaut. In dieser Zeit sah ich z. B. “Krieg und Frieden” und “Schneesturm”, beide aus der damaligen Sowjetunion, sowie die französisch-italienische Koproduktion “Die schwarze Tulpe”. Dieser Film bewegte mich sehr, weil Alain Delon in einer Doppelrolle auch zweimal gleichzeitig auf der Leinwand zu sehen war, ohne dass ein Filmtrick erkennbar gewesen ist.
Stadtrandkinos oftmals mit weniger aktuellem Programm
Viele Filme sah ich mehrmals. Im Gegensatz zu heute wurden nicht nur neue Produktionen gespielt. Diese wurden zuerst im Stadtzentrum gezeigt. Von da aus kamen sie in die nächstliegenden Kinos, bis sie in den Stadtrandgebieten auf dem Spielplan standen. Hatte man einen interessanten Film verpasst, konnte man ihn einige Zeit später erneut auf dem Spielplan entdecken. Bei den Erwachsenenvorstellungen wurde zuerst “Der Augenzeuge” gezeigt, etwa vergleichbar mit der “Tagesschau” des Fernsehfunks. Nur waren die gezeigten Ereignisse nicht mehr ganz aktuell. Kam “Der Augenzeuge” in unserem Stadtrandkino an, konnten inzwischen vier bis sechs Wochen vergangen sein. Danach wurde oft noch ein kleiner Vorfilm mit populärem Inhalt gezeigt, wie Natur, Kultur, Industrie oder Sport.
Donnerstags war Spielfilmwechsel. Das war der spannendste Tag, denn nach der Schule studierte ich erst einmal intensiv die neuen Aushänge in den fünf Schaukästen, die zwischen den sechs lisenenartigen Wandvorsprüngen an der Straßenfront des Kinos hingen. Eine bittere Pille in der Vorfreude auf einen Filmbesuch waren Klassenarbeiten in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie. Fiel die Zensur gar zu heftig aus, war der nächste Kinobesuch gestrichen. Aber zum Glück gab es ja die Wiederholungen.
Eine Klassenkameradin erzählte uns eines Tages voller Stolz, dass sie einen Freund habe – wir waren vielleicht 15 Jahre alt – und mit diesem am Sonnabend ins Kino gehen würde. Der Junge war nicht aus dem Ort und so “mussten” wir alle hin, der Film interessierte uns nicht. Wir hofften zusehen zu können, wenn die beiden sich küssten, denn in der Öffentlichkeit gab es das damals nicht. Aber wir wurden enttäuscht. Die beiden saßen in der letzten Reihe. Es lief ein Schwarzweißfilm. So sehr wir uns auch die Hälse verdrehten, bei hellen Szenen gab es nichts zu sehen und bei den dunklen konnten wir nichts sehen! Es blieb beim einmaligen Kontakt unserer Mitschülerin mit diesem Jungen.
Rasierloge, Spätvorstellung und Kulturfünfer: Was kostete ein Kinobesuch im Schnitt?
Die Eintrittspreise in unserem Kino waren wie folgt: die Kindervorstellung sonnabends um 15.00 Uhr kostete 25 Pfennig und die Familienvorstellung sonntags um 15.00 Uhr 50 Pfennig. Erwachsenenvorstellungen um 17.15 Uhr, 20.00 Uhr und 22.15 (nur sonnabends): erster Platz = 95 Pfennig, zweiter Platz = 80 Pfennig, dritter Platz = 70 Pfennig. Bei den drei letztgenannten Platzkategorien wurden zusätzlich pro Eintrittskarte fünf Pfennige — der bei allen Kulturveranstaltungen erhobene “Kulturfünfer” — gezahlt. Die ersten drei Klappstuhlsitzreihen vor der Leinwand gehörten zu der dritten Kategorie und waren als “Genickstarreplätze”, auch bekannt als “Rasierloge”, am günstigsten. Eine Erklärung erübrigt sich. Sie wurden nur bei großem Andrang gekauft.
Eine Zeitlang gab es montags um 15.00 Uhr noch eine Vorstellung für Rentner und Schichtarbeiter. Der in der Spätvorstellung am vergangenen Sonnabend gezeigte Film wurde noch einmal gespielt. Zu jedem Film gab es ein Filmprogramm. Es bestand aus einem A4-Doppelblatt und zeigte Szenen aus dem Film, führte die Darsteller mit ihren Rollen sowie die wichtigsten technischen Akteure und Daten auf und informierte zum Inhalt. Es kostete 10 Pfennige. Manchmal bestand es aus zwei Doppelblättern und war für 20 Pfennig zu haben. Kinderfilmprogramme bestanden aus einem A5-Doppelblatt und kosteten 5 Pfennige. Sehr begehrt waren Filmstarpostkarten für 20 Pfennig.
Kinosterben in den 70ern – wenn die Filmstätte zur Lagerhalle wird
Im Januar 1958 wurde unser Kino auf Breitwand umgestellt, wie in einem damaligen Ortsblättchen zu lesen war. Weiterhin erhielt es eine Schallschleuse und eine Akustikdecke. Im Februar 1960 wurden im gleichen Blättchen alle Filmfreunde zum fleißigen Filmbesuch aufgerufen. Probeweise erhielt unser Kino für drei Monate das Vorspielrecht, neue Filme vor dem weiter stadteinwärts gelegenen Kino in Großzschocher aufzuführen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Die “Lichtspiele Großzschocher” wurden 1963 geschlossen.
Etwa Mitte der 1960er Jahre bekam unser Kino nochmals eine Modernisierung. Die letzten Reihen wurden der besseren Sicht wegen auf ein allmählich ansteigendes Podest gestellt und erhielten eine Polsterung. Der Eintrittspreis erhöhte sich geringfügig. Aber das Kinosterben traf dann 1971 auch unsere geliebte Stätte. Fortan diente es als Lagerhalle. Die Schaukästen verschwanden und der straßenseitige Eingang wurde vermauert. Der Abriss erfolgte 2018, danach der Neubau eines Wohnhauses. Seine Straßenfassade erinnert mit ihren vier lisenenartigen Wandvorsprüngen an unseren einstigen Lieblingsort. Auch die Gaststätte ist längst Geschichte. Aber immer, wenn ich an dieser Stelle vorbeikomme, erinnere ich mich an die quirlige Schar, die nur darauf wartet, eingelassen zu werden. Schnell noch die Bonbons verteilt und dann kann es losgehen!
Warten auf die Filmrollen: Wie Filmvorführen in der DDR funktionierte
Mein Klassenkamerad Klaus März begann 1969 in unserem Kino seine Ausbildung zum Filmvorführer. Er berichtete mir Folgendes: Die Kinos hatten einen festen Tourenplan für den Transport der Filmrollen. Donnerstagvormittag fand der Austausch statt. Das Knautkleeberger Kino tauschte die Filmrollen mit dem südlich im Landkreis Leipzig gelegenen Kino in Eythra (Anm.: Ort wurde in den 80er Jahren Opfer des Braunkohleabbaus). Die Rollen wurden mit dem Zug transportiert. Klaus fuhr sie mit einem Handwagen zum Knauthainer Bahnhof (Anm.: Knautkleeberg und Knauthain sind um 1900 durch Wohnbebauung zu einem Ortsteil zusammengewachsen). Am Eythraer Bahnhof wurden sie abgeholt, ebenso gelangten die Rollen von Eythra zu uns. Später wurden die Filme mit einem Barkas (Kleinbus) zwischen Knautkleeberg — Eythra — Zwenkau ausgetauscht. Gab es nicht genug Filmkopien, wurden die Vorstellungen getaktet, z. B. am Sonnabend: 15.00 Uhr Zwenkau, 17.30 Uhr Eythra, 20.00 Uhr Knautkleeberg. Wurden die Rollen weitergereicht, mussten sie erst zurückgespult werden.
Es konnte auch vorkommen, dass die Rollen zur Vorstellung nicht rechtzeitig eintrafen, weil die Bahnschranke zwischen Eythra und Knauthain wegen des Zugverkehres geschlossen war. Ich habe es einmal erlebt. Der Film hörte plötzlich auf, das Licht ging an und wir wurden informiert, dass die weiteren Filmrollen noch in einem anderen Kino seien, aber jeden Moment gebracht werden würden. Wir blieben locker. Manchmal waren die Filmkopien schon so verschlissen, dass aus zweien eine funktionstüchtige zusammengeschnitten wurde. Im Knautkleeberger Vorführraum standen als Filmprojektoren zwei „Ernemann IV” mit Kohlebogenlampen, die das Licht erzeugten. Näherte sich die erste Rolle ihrem Ende, was sich durch nur dem Vorführer bekannte Zeichen im Film ankündigte, musste die zweite Rolle in Gang gesetzt werden. Die Kunst bestand darin, dass der Zuschauer den Wechsel nicht bemerkte. Die farbigen DEFA-Filme waren auf ORWO-Color (ORWO = Original Wolfen). In Wolfen bei Bitterfeld stand der einzige, jegliche Art von Filmen herstellende Betrieb in der DDR. Klaus erzählte weiterhin: Im Vorführraum unseres Kinos stand ein Plattenspieler, der bei den früheren Stummfilmen zum Einsatz kam. Die Schallplatten wurden mit dem jeweiligen Film weitergegeben. Das hatte ihm eine alte Filmvorführerin erzählt. Leider habe ich dieses Gerät nicht selbst gesehen.
Von Musikautomaten und Kinoorgeln
Leipzig war weltberühmt für die Herstellung von Musikautomaten. Nicht in jedem Kino wird es einen Pianisten zur Stummfilmbegleitung gegeben haben. Ein Automat ist eine einmalige Anschaffung und jederzeit einsatzbereit. Das Leipziger “Capitol” verfügte bei seiner Eröffnung 1929 über eine Kinoorgel. Bis zur Schließung im Jahr 2003 verzauberte Hasso Veit auf einer Hammondorgel vor ausgewählten Filmvorführungen das Publikum mit seinen Improvisationskünsten. Das Instrument zog danach in den “Regina-Palast” (Dresdner Str. 56) um und Hasso Veit spielte dort noch bis zu seinem endgültigen Ruhestand.
Legendär ist auch der ehemalige Filmvorführer Hans Höher, der nach der Wende als Eisverkäufer im “Capitol” vor den Aufführungen mit beschwingtem Gang und flotten Sprüchen seine Köstlichkeiten absetzte. Auch er ist in den “Regina-Palast” übergewechselt. Im Leipziger Grassi-Museum am Johannisplatz steht etwa seit 2005 eine restaurierte Kinoorgel, die aus einem Erfurter Kino stammt. Vor Corona gab es ungefähr vierteljährlich Termine, in denen Stummfilme mit Orgelbegleitung gezeigt wurden. Eine Veranstaltung habe ich mir angesehen. Der Organist sitzt rechts vor der Leinwand mit Blick auf diese. Die Orgelpfeifen samt Zubehör stehen hinter der Leinwand. Der Organist passt seine Musik dem Charakter der Filmszenen an. Eine Kinoorgel funktioniert wie eine Kirchenorgel, aber auf ersterer können für Filme benötigte Spezialeffekte erzeugt werden, wie Lokomotivpfiff, Autohupe, Sturm, Donner, Schiffsglocke oder Telefonklingel.
Leider geschlossen: das “Zeitkino” und das “Casino”
Eine Besonderheit gab es in der Osthalle des Leipziger Hauptbahnhofes. Rechts, in der Nähe des Ausganges zum jetzigen Linienbusterminal, führte eine ganze Anzahl Stufen in die Unterwelt. Es war der Abstieg zu einer beim Neubau 1907-1913 nicht realisierten U-Bahnstation. Am oberen Eingang befand sich der Eintrittskartenschalter. Im Tunnelstumpf war das “Zeitkino”, das eine Anzahl Kurzfilme unterschiedlichen Inhalts zeigte, die nur von kurzen Pausen unterbrochen wurden. Etwa sechs bis acht Filme wurden gespielt, dann gab es eine größere Pause und die Filme begannen von vorn. Das ging so über einige Stunden und war für Reisende gedacht, die länger auf ihren Anschlusszug warten mussten. Am Abend wurden auch Spielfilme gezeigt. In den öden Wintermonaten sind meine Mutter und ich fast jede Woche nach Besorgungen in der Innenstadt noch dorthin gegangen, ehe wir in der oft ungeheizten Straßenbahn wieder nach Hause fuhren. Heute erinnert nichts mehr an diesen einstigen Kinostandort.
Erwähnen möchte ich noch das Filmkunsttheater “Casino”, Neumarkt 21-27/Ecke Kupfergasse, wo jährlich die Dokumentar- und Kurzfilmwoche stattfand. Dort wurden oft anspruchsvollere Filme gezeigt, die nicht in den regulären Filmvertrieb kamen. Ich sah dort meinen ersten japanischen Film. Erich von Dänikens Film „Zurück in die Zukunft” hatte großen Zulauf, wurde aber schon nach ein paar Tagen wieder aus dem Spielplan genommen – leider bevor ich ihn sehen konnte. Dieses spezialisierte Programmkino wurde 1993 geschlossen. Nach Corona werden hoffentlich Kinobesuche wieder möglich sein.
Das Projektteam von “Kino in der DDR” möchte sich an dieser Stelle ganz herzlich bei Margot Sander für ihre Schilderungen und die Bereitstellung einiger privater Fotoaufnahmen bedanken.
Welche Filme haben Sie im DDR-Kino gesehen und wie erinnern Sie sich an diese Zeit zurück? Schreiben Sie uns Ihre Geschichte an kino-ddr@uni-erfurt.de oder teilen Sie Ihre Erinnerungen und Erlebnisse auf unserer virtuellen Forschungsplattform und helfen Sie uns, diese einmalige Kinokultur vor dem Vergessen zu bewahren: https://projekte.uni-erfurt.de/kinoinderddr/.
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